„Nach der zweiten Anprobe verlässt der Kunde das Geschäft!“

Peer Hohn

Geschäftsführer Phizzard GmbH

Interviewbild Peer Hohn

Nach dem Studium der BWL und der Wirtschaftsinformatik war Peer Hohn 15 Jahre u.a. als Leiter des Zentralen Controllings im Bankenumfeld tätig. Danach baute er als Geschäftsführer eines damals erst fünf Jahre alten Onlineshops für Bekleidung mit mehr als 150 Mitarbeitern ein Team auf, das früh die Erfolgsfaktoren im Onlinehandel identifizierte. Insbesondere die Erfahrungen zur Reduzierung der Retourenquote brachten ihn auf die Idee, mit Phizzard ein eigenes Unternehmen aufzubauen und digitale Lösungen zu entwickeln, die die Online-Welt mit der physischen Welt verbinden und das zentrale Kundenproblem im Geschäft mit Mode lösen: das Finden der passenden Größe.

Was sind für Sie die drei wichtigsten Herausforderungen mit Blick auf den Trend zu Seamless Shopping über mehrere Kanäle hinweg?

Neben der technologischen (Stichwort: unternehmensübergreifend optimierte Daten- und Artikelströme) und der juristischen Herausforderung (Stichwort: Retouren bei Aktionen, die mehrere Kanäle betreffen) ist ganz klar die wichtigste Herausforderung für Händler, ein integriertes, kanalübergreifendes Mindset für die Mitarbeiter zu entwickeln. Das bedeutet vor allem, dass das Filialmanagement und das Online-Marketing mit einem ähnlichen Toolset arbeiten. Bisher arbeiten diese Bereich völlig unterschiedlich – die einen meist sehr auf analytische, zahlenorientierte Methoden fokussiert, während die anderen ihren Schwerpunkt auf emotionaler Inszenierung und physische Kunden-Mitarbeiter-Kommunikation im Laden konzentrieren. Erst wenn beide „Welten“ auf Augenhöhe miteinander kommunizieren, kann sinnvoll an Seamless Shopping-Ansätzen gearbeitet werden.

Phizzard transferiert Technologien und Methoden aus dem E-Commerce in den stationären Handel.  Welchen Mehrwert generieren Sie konkret für Endkunden und Händler?

Händler können mit unserer Technologie ihren Endkunden ein deutlich verbessertes Shopping-Erlebnis mit einer höheren Service- und Beratungsqualität schaffen. Einen wirklich passenden Artikel zu finden, ist für Endkunden im Modehandel bisher in der Regel ein sehr leidiger Prozess. Rein in die Umkleidekabine – Hose ausziehen, neue Hose anziehen – passt nicht! Hose ausziehen, zweite Hose anziehen – passt wieder nicht. Alte Hose anziehen, raus aus der Umkleidekabine, neue Hosen bzw. Größen suchen. Wieder rein in die Umkleidekabine und noch mal von vorn… Die Mehrheit der Kunden verlässt das Geschäft, wenn sie nach der 2. Anprobe nichts passendes gefunden hat.

Mit der Lösung von Phizzard ist die Anprobe viel angenehmer. Wenn ein Artikel nicht passt, werden alternative Artikel und Größen angezeigt, die der Kunde am Screen auswählen kann. Und der Verkäufer wird direkt benachrichtigt, welche Artikel dem Kunden gebracht werden sollen.

Der Händler profitiert nicht allein von einer höheren Zufriedenheit seiner Kunden, sondern vor allem durch direkt spürbare Umsatzsteigerungen. Sowohl die Kaufwahrscheinlichkeit (Conversion Rate) als auch die Durchschnittsbons steigen deutlich.

Und „quasi nebenbei“ lernt das Filialmanagement im Tagesgeschäft, mit analytischen Methoden aus dem E-Commerce die Performance der Stores systematisch zu optimieren.

Jede neue Technologie benötigt Zeit, um vom Markt akzeptiert zu werden. Wie hoch ist die Kundenakzeptanz und was tun Sie, um die Akzeptanz weiter zu steigern?

Wir werten die Aktivitäten der Benutzer immer sehr detailliert aus, um unsere Lösung kontinuierlich entsprechend der Bedürfnisse und Verhaltensmuster der Kunden und Händler zu verbessern. Die Tatsache, dass schon jetzt mehr als die Hälfte der Kunden unsere Lösung benutzt, ist aus unserer Sicht ein guter Beleg dafür, dass wir offenbar gute Arbeit geleistet haben – ebenso gute Arbeit wie übrigens auch die Händler, die es verstanden haben, wie wichtig es für den Unternehmenserfolg ist, ihre Mitarbeiter auf dem Weg zu einem zukunftsweisenden Handelskonzept mitzunehmen.

Welche zentralen Veränderungen sehen Sie für das Shopping-Verhalten der Kunden in einigen Jahren?

Machen wir es mal konkret und nehmen den Kauf eines Sneakers als Beispiel. Der Kunde fährt mit dem Bus und liest auf seinem Smartphone einen Artikel aus einem Sportblog. Dort erfährt er von einem Sneaker mit einer besonderen Laufsohle. Er startet auf seinem Smartphone eine Preisvergleichssuche, kann sich Bewertungen anderer Käufer anschauen und sucht nach Geschäften in seiner Umgebung, die diesen Schuh im Angebot haben. Er wählt eines der Geschäfte aus und reserviert den Schuh. Dann fährt er in das Geschäft und ein darauf vorbereiteter Verkäufer bringt ihm den Schuh. Während der Anprobe stellt er fest, dass der Schuh zu klein und die nächstgrößere Größe nicht verfügbar ist. An einem Terminal bekommt er angezeigt, welche ähnlichen Schuhe besser passen könnten. Außerdem werden ihm die passenden Pflegemittel und ein zu seinem Typ passender Laufanzug angezeigt. Er wird sicher alle paar Wochen E-Mails des Händlers mit verschiedenen Produktvorschlägen erhalten, und ungefähr nach einem Jahr wird ihm wieder ein Laufschuh empfohlen, der in seinem Geschäft verfügbar ist – diesmal mit einer höheren Wahrscheinlichkeit, dass ihm dieser auch passen wird. Und wenn er den gleichen Schuh wie beim letzten Mal kauft, tut er dies natürlich online.

Das zukünftige Shopping-Verhalten wird aus unserer Sicht sehr stark von drei Entwicklungsströmen beeinflusst.

Zum einen werden die Kunden ihren Händlern abgewöhnen, in klassischen Vertriebskanälen zu denken und den Vertrieb danach zu steuern – schon gar nicht mehr online versus offline. Die Händler werden sich vielmehr überlegen müssen, worin die Stärken eines sogenannten „Kanals“ liegen und diese entlang der zu ihren Kunden passenden Customer Journeys optimieren. Die Händler werden die Stärken der „Kanäle“ herausarbeiten und entsprechend so optimieren, dass für den Kunden kanalübergreifend ein effizientes und zugleich zu den Kunden passendes Shopping-Erlebnis entstehen kann.

Gerade auch die Übergänge von Information, Werbung über An- bzw. Ausprobieren bis hin zum Bezahlen und der Übergabe der Ware wird immer nahtloser werden. Und im Zuge ausgereifter CRM-Systeme für den stationären Handel wird auch die After-Sales-Betreuung relevanter Kunden zunehmen. Deshalb wird es zunehmend komplexer, von „dem“ Shopping-Erlebnis zu sprechen.

Zum Abschluss sehen wir vor allem einen langfristigen Trend einer zunehmenden Vertikalisierung – zumindest im Modebereich. Das bedeutet dass die Beziehung zwischen Herstellern und Endkunden immer enger wird, d.h. damit die Hersteller mehr über ihre Konsumenten erfahren, werden auch sie versuchen, in den Dialog mit den Konsumenten einzugreifen, um diese Informationen einerseits für ihre Produktentwicklung und andererseits für ihre Vertriebssteuerung zu nutzen.

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